Nicht jede Wahrheit fühlt sich leicht an
- susakarr
- 17. Feb.
- 9 Min. Lesezeit

Was für eine Art Mensch will ich sein? Das ist die leitende Frage, wenn es um Persönlichkeitsentfaltung geht. „Persönlichkeitsentfaltung“ sehe ich als grundlegend verschieden von „Selbstoptimierung“: während erstere den inneren Werten folgt, richtet sich zweitere nach äußeren Rollenvorstellungen und gesellschaftlichen Zuschreibungen. So wird Erfolg im Sinne der Persönlichkeitsentfaltung daran gemessen, ob ein Ergebnis mit den Wünschen und Überzeugungen der Person übereinstimmen, wohingegen er bei der Selbstoptimierung meist finanziell und materiell, also nach den Werten einer neoliberalen Gesellschaft, gedeutet wird.
Wenn ich mich darauf fokussiere, was mir wichtig im Leben ist, finde ich heraus, welche Werte mich leiten. Es geht nicht um äußere Anpassung an einen wie auch immer gearteten Status Quo, der gesellschaftlich erwünscht ist, sondern um die viel tiefgreifendere Frage, welche Gefühle, Handlungen, welche Gedanken und Wahrnehmungen mich zu einer Lebensform führen, die für mich stimmig ist.
Einen Anspruch an sich selbst zu stellen, ist ein moralisches Ansinnen, das den Einzelnen in einen größeren Rahmen einbettet. Moral gilt aktuell als ein gefürchtetes Konzept, weil sie in einer Gesellschaft, die sich dem unbeschränkten Ausdruck des Individuums verschrieben hat, als Bevormundung und Einschränkung individueller Freiheit missverstanden wird. Während eine Betonung egoistischer, oft kindlich anmutender Impulse als rechtmäßiger Ausdruck freier Meinungsäußerung geframed wird, geraten wahrhaftige Kommunikation und mit ihr Verbindlichkeit aus dem Lot. Ohne Verbindlichkeit schwindet Verlässlichkeit des Gesagten – was gestern verkündet wurde, ist heute vergessen. In der Politik ist dies für alle zu beobachten, aber auch im privaten Bereich – der ja immer die politischen Verhältnisse spiegelt – möchte man sich zunehmend von Verantwortlichkeiten verabschieden.
Verantwortlichkeit, Wahrhaftigkeit – diese Ideale klingen für viele Menschen wie Relikte aus einer unfreien Zeit. Andererseits: ist nicht eigentlich das Mindset, in dem jede und jeder tun und lassen kann, das überkommene, zutiefst reaktionäres? Es lässt sämtliche Sinn- und Kausalzusammenhänge außer Acht und betont einzig den egoistischen, temporären Lustgewinn, der durch seelenlose Ausbeutung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen entsteht. Diese Art von Unreife lässt sich als gesellschaftliches Phänomen verstehen, bei dem ständige Ablenkung durch äußere Reize tiefergehende Auseinandersetzung erschwert. Ein emotional unreifer Mensch denkt vor allem an seine eigenen Bedürfnisse und ignoriert die Folgen seines Handelns für andere.
Die Haltung wirkt sich auf unterschiedlichen Ebenen aus – erstens, auf die materielle. Was die Erde hergibt, wird geerntet, und was sie nicht „freiwillig“ hergibt, wird ihr entrissen (z.B. Fracking). Was man aus dem Meer fischen kann, wird genommen, die Schätze, die zu tief unten sind, werden durch Schallkanonen mobilisiert. Was die gesamte Anordnung der Ausbeutungsindustrie lebenslang gefangener Tiere betrifft, deren Körper als Material oder Produzenten missverstanden werden, kann nur als Katastrophe für alle Beteiligten bezeichnet werden – auf materieller, aber auch seelischer Ebene.
Die zweite Wirkungsebene ist die seelische, wenn Menschen und Tiere gemäß ihrer Leistung auf emotionaler Ebene verfügbar gemacht werden. Dazu gehört das gesamte Feld der Selbstoptimierung. Sie folgt, anders als die Persönlichkeits-entfaltung, äußeren Maßstäben, von außen gegebenen Anreizen und verspricht finanziellen Wohlstand sowie soziale Anerkennung, anstatt innere Erfüllung. Ein weiteres Beispiel ist die diskussionswürdige Entwicklung im Bereich „emotional support animals“. Und auch die Objektivierung von möglichen (zeitweiligen) Partner*innen auf Dating-Plattformen gehört zu einer ähnlichen Haltung.
Die Ausstattung mit einer Seele hat jedoch einen Haken in dieser gesamten Anordnung. Denn obwohl sie durch viele Layer ins Unbewusste und bis zur Unkenntlichkeit abgedrängt wird, lässt sie sich nicht ganz auflösen oder verleugnen. Sie bleibt anwesend etwa durch diese innere Stimme, die sich auch mit dem schon beinahe altmodisch klingenden Wort „Gewissen“ benennen lässt, die sich über sämtliche Wogen egoistischer Weltaneignung auf einer unerreichbaren Sphäre immer noch hält und für Verbindlichkeit ansprechbar ist. Nicht umsonst finden Veranstaltungen, seien sie in Person oder virtuell, bei denen es um „Community“ geht, regen Zulauf. Verbindlichkeit und Kommunikation finden hier wieder zusammen. Es darf wieder gespürt werden: Was wir tun, wirkt sich aus. Dem voran geht: das, was wir denken, formt unser Tun. Und dem wiederum geht die Wahrnehmung voraus: was wir fühlend und beobachtend als Teil der Wirklichkeit verstehen, wird Grundlage unserer Gedanken.
Von der Wirkmacht des eigenen Tuns können wir uns nicht lösen – so gern es auch viele wollen, wenn sie davon sprechen, sie hätten keinen Einfluss. Deswegen bleibt Verantwortung bestehen, und diese bringt das Konzept von Schuld mit sich. Wie wir mit anderen umgehen, liegt in unserer Verantwortung. Darauf aufmerksam zu machen, löst immer wieder Ärger und sogar Aggression aus – als wollten die Angesprochenen in ihrer infantilen Blase der Verantwortungslosigkeit beharren. Auch Aktivist*innen, gerade im Bereich von Tierrechten, weisen oft darauf hin, dass sie das Erzeugen von Schuldgefühl nicht für konstruktiv halten. Die Ausgliederung der Schulddebatte hält jegliche Diskussion über moralisches Bewusstsein auf Abstand.
In einem anderen Verständnis werden Schuld und Scham jedoch als moralisch wirksame, pädagogische Initiatoren verstanden: weil sie zu verändertem Verhalten anregen und motivieren können, Schaden wieder gutzumachen. Die finnische Philosophin Elisa Aaltola differenziert Schuld, die sich vornehmlich auf individuelle Handlungen bezieht und sich innerlich abspielt, von Scham die sich vornehmlich „external“, nach außen abspielt und mit der Frage einhergeht, wie „die anderen“ einen wahrnehmen und beurteilen.
In ihren Ausführungen über „morally constructive shame“ schreibt sie: „Whilst guilt holds the power to provoke alteration in one specifc belief, value or action, shame can cause more profound and systemic modifcation concerning entire systems of beliefs, values and actions.“ Das Gefühl der Scham setzt bei der Selbstwahrnehmung und dem Begehren an, mit den eigenen Werten in Einklang zu leben. Dem liegen Fragestellungen zugrunde, die sich mit diesen inneren Werten auseinandersetzen: „Why do I define my “self” in a particular way, and how does this impact how I treat the world around me? How could I define myself differently, so as to manifest a more respectful way of co-existing with other species and natural entities?“
Selbstbestimmtes Handeln kann nur dann entstehen, wenn man die eigenen Werte reflektiert und sie mit dem eigenen Handeln abwägt. Dabei tut sich eine weitere Dimension auf: die der Voraussetzung nämlich, dass man sich über eigen Werte im Klaren ist. Woher kommen diese? Sind sie eine reine Übernahme gesellschaftlich als adäquat anerkannten Normen oder gibt es ein eigenständiges Subjekt in dem Sinne, als dass dieses für sich abwägt, nach welchen Überzeugungen/Richtlinien es handeln will?
Ein Zugang zu den eigenen Gefühlen ist Conditio sine qua non. In der alltäglichen Manipulation durch Botschaften eines medial konsumistisch geprägten Zeitgeistes muss man sich zunächst aus dessen Einflüsterungen freimachen, mitunter regelrecht herauswinden. Das erfordert einen wachen Geist und die Einsicht in die Notwendigkeit. Hilfreich mag immer wieder die Frage sein: Wer erzählt was, für wen und warum? Wem dienen die Narrative von Erfolg, wie sie in westlich geprägten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts propagiert werden? Was haben sie mit eigenen Vorstellungen eines gelungenen Lebens zu tun? Und weshalb hat „Erfolg“ so einen hohen Stellenwert, im Vergleich mit Erfüllung etwa? Die unterschiedlichen Ausrichtungen werden hier offensichtlich: während Erfolg (in dieser Definition) etwas ist, das nach außen hin sichtbar und messbar ist (im Vorweisen materieller Güter bzw. finanzieller Potenz), ist Erfüllung eine Qualität, die sich innerhalb der Person zeigt, die eine Präsenz der Seele voraussetzt, in der die Erfüllung spürbar wird.
Die Empfindungen von Schuld und Scham begleiten philosophische Überlegungen seit Ewigkeiten, wie etwa Platos „Gorgias“ anschaulich macht. Sie spielen in der Persönlichkeitsentfaltung insofern eine Rolle, als sie Leitlinien vorgeben. Wie verhalte ich mich, so dass ich dazu stehen, kann, welche Konsequenzen sich daraus ergeben? Im Kontext mit der Verwendung von Tieren als Nahrungsmittel etwa stellt sich die Frage: Möchte ich unterstützen, dass ein Tier sein Leben verliert, weil ich einen Teil seines Körpers konsumieren möchte? Möchte ich verantworten, dass Tiere ein Dasein fristen, das mit „Leben“ falsch benannt ist? Im Kontext politischer Entwicklung stellen sich die Fragen ähnlich: Kann ich die Ausgrenzung von Menschen rechtfertigen?
Solche Überlegungen können unangenehme Gefühle triggern. Aber im Gegensatz zu den Zensur-Mechanismen, die Trigger-Warnungen zur Verschleierung der Wahrheit einsetzen, dürfen wir uns von der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann erinnern und ermahnen lassen: „Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar." Und dazu ist Selbstreflexion ohne Zensur ein wesentlicher Beitrag.
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Dieser Artikel erschien zuerst bei Counterpoint Navigating Knowledge, am 11. Februar 2025.
The Truth Requires a Little Shame and Guilt
What kind of person do I want to be? This question serves as a compass for personal growth, guiding the ever-unfolding journey of self-discovery and transformation. When attention is given to what truly matters, the values that shape one's path become clear - yet they remain mere signposts, as living in alignment with them is a choice not always embraced. Too often, the desire for belonging takes precedence over the call of authenticity, leading many to conform to a socially desirable status quo rather than explore the deeper question of which feelings, actions, thoughts, and perceptions create a life that is truly their own.
Making demands on oneself is a moral act that connects the individual to a larger framework. Morality is often met with hesitation, misunderstood as paternalism and a restriction of freedom in a society that values individual expression. While selfish impulses are framed as free speech, true communication and commitment suffer. Without commitment, words and values lose their weight - what is said today is forgotten tomorrow. This is seen in both politics and personal life, where a growing trend of distancing from responsibility reflects broader political dynamics.
Responsibility, truthfulness - for many people, these ideals sound like relics from an era of restriction. On the other hand, isn't the mindset in which everyone can do as they please actually an outdated, deeply reactionary one? It disregards all meaning and causal connections and only emphasises the egotistical, temporary gain in pleasure that comes from the soulless exploitation of all available resources.
The attitude has an impact on different levels - firstly, on the material level. What the earth gives is harvested, and what it does not give ‘voluntarily’ is taken from it (e.g. fracking). What can be fished out of the sea is taken, the treasures that are too deep down are mobilised by sonic cannons. The entire arrangement of the exploitation industry of animals caught for life, whose bodies are misunderstood as material or producers, can only be described as a catastrophe for everyone involved - on a material level, but also on a psychological level.
The second level of impact is psychological, when people and animals are made available on an emotional level according to their performance. This includes the entire field of neoliberal self-optimisation. Unlike personality development, it follows external standards, external incentives and promises financial prosperity and social recognition rather than inner fulfilment. Another example is the debatable development in the area of ‘emotional support animals’. The objectification of potential (temporary) partners on dating platforms is part of a similar attitude.
The presence of the soul cannot be denied, even if it’s buried in the unconscious. It persists through the inner voice, or ‘conscience,’ which rises above ego-driven desires and calls for commitment. Events centered on ‘community’ are popular because they unite commitment and communication, reminding us that our actions have an impact, shaped by our thoughts and perceptions of reality.
We can't escape the impact of our actions, even if many claim they have no influence. Responsibility persists, bringing guilt with it. How we treat others is our responsibility. Highlighting this often triggers anger, as if people want to stay in their bubble of irresponsibility. Animal rights activists argue that inducing guilt isn't constructive, but sidelining the guilt debate distances us from discussing moral consciousness.
In another understanding, however, guilt and shame are seen as morally effective, pedagogical initiators: because they can encourage changed behaviour and motivate people to make amends for damage. The Finnish philosopher Elisa Aaltola differentiates between guilt, which primarily relates to individual actions and takes place internally, and shame, which primarily takes place ‘externally’ and is associated with the question of how ‘others’ perceive and judge you.
In her comments on ‘morally constructive shame,’ she writes: “While guilt can provoke a change in a specific belief or action, shame can lead to more profound, systemic modifications in entire systems of beliefs, values, and actions.” Shame begins with self-perception and the desire to align with one’s values, prompting questions like: “Why do I define my ‘self’ in this way, and how does it affect my treatment of the world? How might I define myself differently to coexist more respectfully with other species and nature?”
Self-determined action can only arise if you reflect on your own values and weigh them up against your own actions. This opens up another dimension: the prerequisite that you are aware of your own values. Where do these come from? Are they a pure adoption of socially recognised norms or is there an independent subject in the sense that it weighs up for itself which convictions/guidelines it wants to act according to?
Access to one's own feelings is a sine qua non. In the everyday manipulation by messages from a media-driven, consumerist zeitgeist, you first have to free yourself from its whispers, sometimes even wriggle out of them. This requires awareness and understanding of the necessity. A helpful question is: Who is telling what, for whom, and why? Who benefits from the success narratives in Western societies today? How do they relate to our own ideas of a successful life? Why is success valued so highly over fulfilment? The difference is clear: success is visible and measurable—through material goods or financial power—while fulfilment is internal, felt through a presence of the soul.
Guilt and shame are central to philosophical thought. They guide personality development by prompting questions like: How should I behave to stand by my actions, and what are the consequences? For instance, when it comes to using animals as food, we ask: Do I want to support an animal losing its life for my consumption? Similarly, in politics: Can I justify the marginalization of others?
Such considerations can trigger unpleasant feelings. But in contrast to the censorship mechanisms that use trigger warnings to conceal the truth, let us be reminded and admonished by the writer Ingeborg Bachmann: ‘The truth is that the truth is bearable’, emphasizing, that truth is something humans can be expected to face. And self-reflection without censorship is an essential contribution to this.
Photo © Pexels/Pixabay
This text has first been published at Counterpoint Navigating Knowledge on February 11, 2025
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